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Dass dieser Vater plötzlich ganz unten angekommen war, realisierte er erst, als er sich eingestehen musste, dass er zum Dieb geworden ist. Marcel Hansen (Name geändert) kann sich noch gut daran erinnern, wie alles anfing:

„Ich stand im Laden. Als niemand in meiner Nähe war, steckte ich einfach etwas Obst und Gemüse in meine Jackentaschen.“

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Für seine Kleine und sich musste er stehlen

Damit er und seine kleine Tochter nicht hungern mussten, musste er stehlen. Vor Jahren starb seine Frau an Krebs. Seither ist Marcel Hansen alleinerziehender Vater. Für seine Diebestaten schämt sich Hansen noch immer. Jedes mal aufs Neue, wenn er über seine Vergangenheit spricht.

Dabei geht es ihm so, wie vielen anderen Alleinerziehenden auch. Schon seit mehr als zehn Jahren arbeitet der 39-Jährige in Teilzeit. Mit dem Gehalt, das ihm die Arbeitsagentur mit einem geringen Betrag zusätzlich aufstockt, kommt er gerade einmal auf Hartz-IV-Niveau. Damit ist er einer der unzähligen Aufstocker in Deutschland, die trotz einer Arbeitsstelle (manchmal sogar Vollzeit) weniger verdienen, als die Sozialsicherung selbst beträgt.

So kommt der Papa des neujährigen Mädchens nach eigener Aussage auf etwas mehr als 1.000 Euro im Monat – netto, plus Kindergeld. „Selbst das ist teilweise weniger – zum Beispiel wenn ich krank war oder bei einer Behörde etwas schief geht“, erklärt er.

Oft monatelang kein Geld für Kleidung

Die Miete ist in München im Durchschnitt wesentlich teurer als in anderen deutschen Städten. Meist bleiben dem Vater nach Abzug der Miete und den anderen Fixkosten gerade einmal 100 Euro übrig: „Es reicht oft nicht einmal für das Nötigste“, erklärt er. Manchmal reicht das Geld nicht einmal aus, um einfach eine Hose für seine Tochter zu kaufen. Doch immerhin haben seine Tochter und er mittlerweile genug zu Essen.

Als Marcel Hansen noch klauen musste, war ihm zunächst nicht bewusst, dass die Arbeitsagentur Geringverdienern das Einkommen bis auf Hartz-IV-Niveau aufstockt. Auch wusste er nicht, dass es spendenfinanzierte Einrichtungen gibt, bei denen Bedürftige umsonst Lebensmittel erhalten können – so zum Beispiel bei den Lebensmitteltafeln.

Mittlerweile muss Marcel Hansen zwar keine Lebensmitteltafeln mehr besuchen, doch für viele Alleinerziehende, Familien, Arbeitslose und Rentner sind diese der einzige Weg, an frische Lebensmittel zu kommen.

Massiver Andrang bei den Tafeln in Berlin und Brandenburg

Die Geschichte von Marcel Hansen macht klar: Tafeln werden längst nicht nur von Obdachlosen besucht. Allein die Münchner Tafeln versorgten nach eigenen Angaben zuletzt um die 20.000 Menschen. „Es sind immer mehr alte Menschen und Alleinerziehende, die zu uns kommen, um sich Brot, Gemüse oder anderes Essen abzuholen.“

Dies erklärte Gregor Tschung, Sprecher der Münchner Tafeln gegenüber dem Online-Magazin „Business-Insider“. Besonders kritisch sieht die Lage derweil auch bei anderen bayerischen Tafeln aus, wo ehrenamtliche Helfer so viele Bedürftige wie noch nie zuvor versorgen.

Besonders starken Zuwachs verzeichnete auch der Landesverband der Tafeln in Berlin und Brandenburg. Hier würden sich jeden Tag zwischen 700 und 1.000 Menschen an die Ausgabestellen der Tafeln wenden.

Unglaublich, wenn man bedenkt, dass die Tafeln gerade erst von 2014 bis zum Frühjahr 2016 einen Anstieg von gut einem Drittel zu bewältigen hatten.

Die Tafeln in Berlin und Brandenburg sind jedoch keine Ausnahme. Auch in den anderen Regionen der Republik sind merklich immer mehr Menschen auf die spendenfinanzierten Tafeln angewiesen. Dies ergaben Anfragen des „Business-Insider“-Magazins bei mehreren Landesverbänden. Die schockierende Erkenntnis: Keiner der angefragt Landesverbände konnte von einem Rückgang berichten. In sämtlichen Regionen war die Nachfrage gestiegen.

Einige Tafeln verzeichnen Zuwachs um 50 Prozent

In Nordrhein-Westfalen müssen die ehrenamtlichen Mitarbeiter der Tafeln mittlerweile unglaubliche 400.000 Bedürftige versorgen. Der Landesvorsitzende Wolfgang Weilerswist ging gegenüber „Business Insider“ an Neujahr von einem Zuwachs von etwa zehn Prozent aus. Nur wenige Tage später bekam er von den Tafeln des Bundeslandes ein dramatisches Feedback: die Zahlen der Bedürftigen seien sogar um ein Drittel gestiegen.

„Seit Ende 2014 schnellte die Zahl der Bedürftigen in die Höhe“, erklärte Weilerswist dem „Business Insider“. Manche Tafeln in NRW verzeichneten sogar einen Zuwachs von unglaublichen 50 Prozent. Der Anstieg habe außerdem relativ vielseitige Gründe. „Gründe wie etwa Altersarmut, Scheidungen, keine Zahlung von Unterhalt oder prekäre Arbeitsverhältnisse“ – erklärte der Funktionär die Situation.

Außerdem gebe es bundesweit mehrere Millionen Solo-Selbstständige. Mehrere Hunderttausend von ihnen verdienen umgerechnet unter dem Mindestlohn. Um sich den immensen bürokratischen Aufwand zu sparen, verzichten viele auf ein ergänzendes Hartz IV.

Auch Sabine Altmeyer-Baumann, die Vorsitzende des Tafel-Landesverbands Rheinland-Pfalz und Saarland, erklärte auf Anfrage: „Die Zahl der Menschen, die zu uns kommen, ist 2016 gestiegen.“

Flüchtlingskrise, Situation Alleinerziehender, Alters- und Kinderarmut

Auch in Baden-Württemberg war die Zahl der Bedürftigen wesentlich höher als noch im Dezember 2015. Dies bestätigte der dortige Landesverband. Bereits im zweiten Halbjahr 2015 habe es dort massive Anstiege gegeben.

Der Zuwachs würde sich im landesweiten Durchschnitt im „mittleren zweistelligen Prozentbereit“ bewegen. Neben der hohen Anzahl an Flüchtlingen würden sich auch immer mehr Rentner an die Tafeln wenden. Für sie ist das größte Problem die Altersarmut. Man geht derzeit von rund 100.000 Menschen im Südwesten aus, die auf die Unterstützung der Tafeln angewiesen sind.

Im Osten sind besonders viele Alleinerziehende die Gäste der Tafeln. So meldeten beispielsweise Sachsens Tafeln für das Jahr 2016 noch mal einen leichten Anstieg der Bedürftigen im Vergleich zum Vorjahr.

Hier ist häufig die Überschuldung ein großes Problem. Sobald jemand einen großen Kredit bedienen müsse, reiche Hartz IV nicht mehr aus.

Tafeln kommen nicht mehr nach

Derzeit beobachten viele Tafeln, dass die Grenzen ihrer Mitarbeiter und Kapazitäten erreicht werden. Im Dillenburg können die Tafeln beispielsweise nur 600 Bedürftige versorgen, jedoch stehen noch 300 weitere auf der Warteliste.

Der steigende Bedarf macht sich mittlerweile auch bei den Lebensmitteln bemerkbar. Doch auch an ehrenamtlichen Mitarbeitern und Räumlichkeiten fehle es mittlerweile.

Und weiterhin rechnen die Experten mit einem Anstieg der Bedürften, die den Service der Tafeln in Anspruch nehmen werden. Dabei versorgten die Tafeln bereits in den vergangenen Jahren so viele Menschen wie noch nie. Laut einer Umfrage bei einem großen Teil der deutschen Tafeln soll die Zahl der Bedürftigen von 2014 bis 2017 um fast 20 Prozent gestiegen sein.

2014 hätten die Tafeln zudem zeitweilig bis zu 280.000 Flüchtlinge unterstützen müssen. In NRW sind etwa 10 bis 15 Prozent der Kunden Flüchtlinge. In manchen deutschen Ständen wurden wegen deren großen Anzahl die Wartezeiten für die Einheimischen teilweise noch länger. Einige Tafeln mussten zwischenzeitlich sogar einen Aufnahmestopp verhängen.

Ursache: wachsende Bevölkerungsarmut

Der Bundesverband verweist bei der Frage nach der Ursache für den enormen Andrang bei den Tafeln auf die wachsende Armut in der Bevölkerung. Fast jeder vierte Kunde der Tafeln sei noch ein Kind.

Damit sei insbesondere der Anteil der Jungen und Mädchen unter den Bedürftigen weit höher als in der Gesamtbevölkerung. Es scheint also, als wären Familien im Durchschnitt ärmer als Solos.

Jeder fünfte Tafelgänger ist laut den Angaben des Bundesverbandes alleinerziehend. Jeder Vierte befindet sich bereits im Ruhestand. Es sind erschreckende Zahlen, die hier zu Tage kommen.

Laut den Forschern des DIW verfügen vier von zehn Deutschen nicht über ausreichende finanzielle Mittel, um sich Rücklagen zu bilden. Fast die Hälfte aller Menschen, die ihr Kind alleine erziehen, seien laut dem Paritätischen Wohlfahrtsverband von Armut betroffen. Derzeit sind unglaubliche 1,2 Millionen Alleinerziehende auf eine staatliche Unterstützung angewiesen. Und das, obwohl sie arbeiten.

Aus einer Studie der Bertelsmann-Stiftung geht hervor, dass im Jahr 2015 in Deutschland mehr als 1,9 Millionen Jungen und Mädchen in Armut aufwuchsen. Die Zahl der verarmten Kinder steigt damit.

Bildquelle: © bilderstoeckchen – Fotolia.com

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